Hallpay ist ein Ritual aus den Anden. Es ist wie eine Zigarettenpause – bloß, dass keine Zigaretten geraucht, sondern Kokablätter gekaut werden. Für diesen Brauch nehmen sich die Andenbewohner bewusst Zeit, sie machen für das hallpay eine Pause von der Feldarbeit, sie versammeln sich mit Familie und Freunden, um in Gemeinschaft Koka zu kauen, Gespräche zu führen und den Geist in das Hier und Jetzt zu holen. Kokablätter – die man in Tütchen abgepackt auf dem Markt kaufen kann –, sind in den Anden ein willkommenes Gastgeschenk – man könnte sagen: Koka lässt das Eis zwischen zwei Menschen schmelzen, es stärkt die gemeinsame Identität und Freundschaft.
In Cusco lernte ich den Kanadier David kennen. Er scheint pausenlos auf hallpay zu sein – was paradox ist, denn wie kann jemand eine Pause von der Pause machen? David lebt in Cusco mit seiner Freundin und hat die Erforschung alter andiner Traditionen zu seiner Mission gemacht. In meinen Augen ist David ein Unikat. Selbst für die Einheimischen muss “Gringo-David” mit seinen Gummilatschen und seinem permanten Kokakonsum ein Mysterium sein, denn er kommt von den blassgrünen Blättchen gar nicht mehr los. Stets trägt er einen Bündel Kokablätter in einem Textil-Beutel mit sich – so wie die Schamanen und Pa’qos (Andenlehrmeister). Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, er hat einen Golfball in seiner linken Backe, aber in Wirklichkeit ist das ein riesiger Koka-Kloß, den er mit reichlich Blattnachschub am Leben hält. Ich habe David so kennen gelernt und nie habe ich ihn anders gesehen. Auf die Frage, warum er sich nonstop Kokablätter in den Mund schiebt und durchspeichelt, meint er, die Kokapflanze gebe ihm Kraft und Energie, außerdem könne er sich besser auf seine Arbeit konzentrieren. Es scheint zu wirken, denn David redet wie ein Wasserfall. Vielleicht sollte ich ebenfalls Koka kauen, um mithalten zu können. Aber nein danke, ich persönlich kann dem bitteren und grasigen Geschmack der Blätter nicht viel abgewinnen. Im mate de coca, dem typischen Kokatee, den man in Peru überall kredenzt bekommt, mag es noch gehen. Der hilft tatsächlich bei Magenkrämpfen. Den “Koka-Kau-Test” habe ich ebenfalls löblich über mich ergehen lassen, kann aber bis auf weiteres darauf verzichten.
Doch zurück zu David. Ist er abhängig? Ich glaube, es ist ein Zwang, die grünen Blätter zu konsumieren. Er scheint sich an die leicht aufputschende Wirkung gewöhnt zu haben. Nun denkt er wahrscheinlich, dass er nicht mehr ohne kann. Dafür nimmt David aber in Kauf, wie ein Hamster auszusehen und auf der Straße schief angesehen zu werden. Und da habe ich noch nicht seine blauverfärbten Lippen erwähnt. Denn die Sache ist, man müsste schon kiloweise Kokablätter kauen, um den Effekt von Kokain zu spüren – selbst David ist davon weit entfernt. Die Kokapflanze enthält neben aromatischen Stoffen, ätherischen Ölen, Mineralien, Spurenelementen und Vitaminen, gerade einmal zwei Prozent Kokain, welches durch den Speichel und die Magensäure direkt zu Ecgonin umgewandelt wird. Dieser Stoff besitzt kaum noch Suchtpotential.
Koka trägt den vollen Namen erythroxylum coca und wird in den Ostanden auf Plantagen zwischen 300 und 2000 Meter Höhe angebaut. Es ist eine Heil- und Kulturpflanze – schon seit 5000 Jahren bauen die Indigenen Koka an und nutzen es als Genussmittel, für medizinische und religiöse Zwecke. Aufgrund der schmerzlindernden Wirkung nennt man Koka auch das “Aspirin der Anden”. Es steigert die Leistungsfähigkeit, unterdrückt Hunger, hilft bei der Verdauung, hält den Geist wach und den Körper warm. Zusätzlich fördert es die Aufnahme von Sauerstoff in die Blutbahnen, was soroche, der Höhenkrankheit, vorbeugt. Die Indigenen kauen ihr Koka niemals ohne llipt’a, einem Pülverchen aus Pflanzenasche. Sie rollen das Pulver zu kleinen Bällchen und schieben kleine Brocken gemeinsam mit den Blättern in den Mund. Llipt’a fördert die Freisetzung der alkaloidhaltigen Stoffe, die nun in den Blutkreislauf gelangen.
Die Indigenen würden ihren durchgekauten Kokaball niemals ausspucken. Das wäre respektlos gegenüber Mama Coca – ihrer Koka-Göttin. Stattdessen ist es Tradition, die genutzten Blätter unter einen Stein zu legen und der Pachamama, der Muttererde für das Koka zu danken. Es ist die Balance zwischen Nehmen und Geben, das Prinzip von ayni, der Reziprozität, welche im Verständnis der Indigenen tief verwurzelt ist. Die Kokapflanze ist auch Bote zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen. So werden Kokablätter in Zeremonien, Opfergaben und Prophezeiungen verwendet, um mit den Geistern zu kommunizieren und sie um Rat zu fragen. Je nachdem, wie die grasigen Blättchen schmecken, zu Boden fallen oder aussehen, lässt sich mit ihnen die Zukunft bestimmen und Krankheiten lassen sich diagnostizieren. Die Gläubigen wählen drei der schönsten Kokablätter zu einem k’intu aus, halten sie vor den Mund und hauchen den Blättern ihren energetischen Atem ein. Nun können sie ihre Muttererde und Berggötter um Segen bitten.
Hallo Nora,
Wir sind im Moment noch in Lima. Wir fragen uns, ob wir Coca mit nach Deutschland nehmen dürfen? Im Tee schmeckt er uns nämlich sehr gut. Aber in Foren liest man die aberwitzigsten Einträge. Kannst du uns damit weiterhelfen? Vielen Dank :)
Liebe Grüße
Marcel
Hola Marcel,
Soweit ich weiß darf man keine Produkte aus der Koka-Pflanze mit nach Europa einführen, also auch kein Tee. Leider :( Dabei sind die Wirkstoffe von Koka so gut für den Körper.
Liebe Grüße aus Cusco,
Nora
Hi Nora, ich bien selber Arzt, arbeite gerade in Barcelona-Spanien. Diese Artikel ist eine die beste, die ich gelesen habe. Coca ist ein pflanze, die sehr gesund ist, und man kann in der Medizin sehr viel benutzen. Auf ein Seite als Analgetikum so wie Aspirin auf der andere Seite hat ein spezielle Wirkung für Herz, und steigt den Kraft so wie Digoxin. Also ein wundern mittel. Also Gratulieren für ein sehr gute Beitrag. Gruß aus Barcelona
Vielen Dank Victor :) Grüße aus Cusco
Hallo Nora,
Super Artikel, vielen Dank!
Ich habe mich gefragt, ob man solche Koka Plantagen in Peru auch besuchen kann? Ich fände es total interessant zu sehen, wie die Pflanze angebaut und weiter zubereitet wird, gerade weil es so allgegenwärtig in Peru ist. Habe dazu aber leider gar nichts finden können.